Institut für Rechtsmedizin
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Halswirbelsäulen-Schleudertrauma

Rechtsmedizinische Aspekte und verletzungsmechanische Begutachtung

10.11.2002

Rechtsmedizin beinhaltet nach der Weiterbildungsordnung für Ärzte die Entwicklung, Anwendung und Beurteilung medizinischer und naturwissenschaftlicher Kenntnisse für die Rechtspflege. Traditionell beschäftigt sich deshalb die Rechtsmedizin mit der forensischen Beurteilung von Verletzungen des Menschen, sowohl hinsichtlich ihrer Entstehungsart und Ursache, als auch hinsichtlich ihrer Ausprägungen und ihrer Folgen.

Da Verletzungen immer Folge der Einwirkung schädigender Agenzien physikalischer oder chemischer Natur sind, ist die fachübergreifende Zusammenarbeit mit Experten aus diesen Fachgebieten wesentliche Voraussetzung für die sachverständige Beurteilung forensischer Fragestellungen im Zusammenhang mit Verletzungen. Fragestellungen, ob überhaupt und wie bei einer mechanischen Gewalteinwirkung eine Verletzung entstehen kann, können nur sachverständig beantwortet werden, wenn bei einem Gutachter ausreichende Kenntnisse der physikalischen Grundlagen der biomechanischen Belastungen vorhanden sind, wie auch der normalen und pathologischen Anatomie des menschlichen Körpers. Diese Kenntnisse kann entweder ein Sachverständiger durch seine Ausbildung allein erworben haben, oder es können Sachverständige der Einzeldisziplinen ihr Fachwissen zusammenführen. Endergebnis ist ein Gutachten zur Verletzungsmechanik im gegenständlichen Falle.

Bei der Begutachtung und rechtlichen Würdigung des HWS-Traumas und seiner Folgen sind drei Fallkonstellationen zu unterscheiden:

  1. Wesentlicher Unfallschaden nach Art und Dauer - adäquate Beschwerden:
    kein Gutachten erforderlich
  2. Wesentlicher Unfallschaden - "ewige Beschwerden" fraglicher Ausprägung/Ursache:
    Gefragt: Gutachten von Orthopäden, Neurologen, Psychologen, Psychiater
  3. Unwesentlicher Unfallschaden - nach Art und/oder Dauer nicht adäquate Beschwerden:
    Gefragt: Verletzungsmechanisches Gutachten Sachverständiger für Verletzungsmechanik (‘Biomechaniker', Rechtsmediziner, technischer Sachverständiger).


Die uns vorgelegten Begutachtungsfälle zum HWS-Schleudertrauma stellen somit eine streng selektierte Gruppe dar: Nur bei geringfügigem oder fehlendem Unfallschaden (z. B. Vollbremsung) wird die Frage der Ursächlichkeit zwischen einem Schadensereignis und dessen Kausalität für die ärztlich attestierte Beschwerden überhaupt gestellt. (Dabei mag die Ansicht über einen 'geringfügigen' Schaden am Fahrzeug zwischen Sachverständigen und Laien weit auseinander gehen: Während der Sachverständige die verletzungsmechanisch relevanten Deformationen zugrunde legt, orientiert sich der Betroffenen primär an den sichtbaren Zerstörungen und den u.U. beträchtlichen Reparaturkosten).

Eine weitere Besonderheit der rechtsmedizinischen Begutachtung von HWS-Distorsionen liegt darin, daß immer ein ärztliches Attest eines oder mehrerer Ärzte vorliegt und daß die biomechanische Fragestellung meist viele Monate oder sogar Jahre nach dem Unfallereignis an uns gerichtet wird.

Die gutachterliche Problematik bei der HWS Distorsion ist aus ärztlicher Sicht die Objektivierbarkeit morphologischer Schädigungen und die graduelle Abstufung der Verletzungs- schwere. Seit Jahrzehnten bewährt ist die Einteilung nach Erdmann1 in drei Schweregrade. Definitionsgemäß sind bei Grad I keine objektivierbaren morphologischen Veränderungen nachweisbar.

Da auch ohne morphologisch objektivierbare Veränderungen subjektive Beschwerden bzw. funktionelle Störungen vorhanden sein können, enthalten die ärztlichen Atteste Beschreibungen dieser Art: Schmerzen, Einschränkungen der Beweglichkeit, tastbare Verhärtungen der Muskulatur (Myogelosen), Steilstellung der HWS im Röntgenbild, Schwindel, Übelkeit, Mißempfindungen.

Das Vorliegen der in den Attesten beschriebenen Beschwerden wird von uns bei der Begutachtung grundsätzlich als wahr unterstellt. Es kann in der Regel nicht Aufgabe eines verletzungsmechanischen Kausalitätsgutachtens sein, die attestierten Beschwerden und Diagnosen nachzuprüfen - zumal oftmals erst nach lange Zeit nach dem Unfall.

Alle die oben genannten Beschwerden und Funktionsveränderungen können auch unabhängig von einem Trauma, also einer mechanischen Belastung, entstehen und bestehen. Aus rechtsmedizinischer bzw. verletzungsmechanischer Sicht konzentriert sich deshalb die Fragestellung bei der Begutachtung darauf, ob die für die Belastung verantwortlichen mechanischen Einflussgrößen im gegenständlichen Falle ein Ausmaß erreicht haben, das nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse der Verletzungsmechanik geeignet ist, eine HWS Distorsion hervorzurufen.

Halswirbelsäulen-Schleudertrauma

Als am ehesten geeignete mechanische Größe hat sich die Geschwindigkeitsänderung 'DeltaV' des Pkw des Geschädigten erwiesen. Zur Ermittlung von DeltaV ist, unter Berücksichtigung des Unfallherganges und der Kollisionsstellung der Fahrzeuge, die Kenntnis der beteiligten Fahrzeugtypen und der Beschädigungen der Fahrzeuge erforderlich. Eine sichere Beurteilungsgrundlage bildet hinsichtlich der Beschädigungen nur ein Sachverständigengutachten. Lichtbilder allein sind nur mit Einschränkungen tauglich. Noch problematischer sind Reparaturrechnungen: Abgesehen davon daß oftmals der Schaden ’aggraviert’ wird, geben Reparaturrechnungen nur Auskunft darüber, welche Bauteile ersetzt wurden, nicht aber über das Ausmaß von deren Beschädigung. Anhand der belegten Unfallschäden am Pkw gelingt es, im Vergleich mit bekannten Schadensbildern aus Crashversuchen gleicher Pkw-Typen, im infrage kommenden Geschwindigkeitsbereich eine Einschätzung von DeltaV mit einer Streubreite von +/ 5 km/h vorzunehmen. Bei vielen hundert, weltweit durchgeführten Versuchen mit freiwilligen Versuchspersonen wurde festegestellt, daß bis zu einer Geschwindigkeitsänderung von DeltaV = 13 bis 15 km/h HWS-Beschwerden nur in Ausnahmefällen und, soweit überhaupt, nur wenige Stunden anhaltend, beobachtet wurden. Auf diesen ‘Grenzwert’ wird bei der biomechanischen Begutachtung primär abgehoben.

Soweit gegenwärtig erkennbar, müssen u. U. dabei eine Reihe von Einflulßfaktoren Berücksichtigung finden:

  • Aus physikalischer Sicht z. B. die Art und Einstellung der Kopfstütze, letztere relativ zum Anspruchsteller.
  • Aus medizinischer Sicht: Vorhandene Vorschäden, relevante anatomische oder gesundheitliche Auffälligkeiten, die Körperhaltung und möglicherweise auch die Kopfhaltung zum Zeitpunkt des Aufpralles, u.a.
Es sind allerdings bisher keine Versuchsergebnisse verfügbart, die den Einfluß dieser Parameter schlüssig und bewertbar belegen.

Vom ärztlichen Attest muß der biomechanische Sachverständige erwarten, daß es folgen- de Angaben enthält: Alter, Korpergröße, Gewicht des Patienten, Besuchstermine, erhobene Befunde, weitere Vorstellungstermine, Vorschäden.

Eher unbrauchbar ist im ärztlichen Attest eine Äußerung zur Ursache bzw. zur Kausalität, sofern der behandelnde Arzt hier nicht die dafür besonderen Kenntnisse besitzt und auch die technischen Bedingungen des angeschuldigten Ereignisses mitberücksichtigt hat.

Bezüglich Art und Umfang des verletzungsmechanischen Gutachtens ist die juristische Fragestellung ausschlaggebend:

Für Versicherungen sind nach unserer Auffassung Kurz- oder Formulargutachten nach Aktenlage durchaus von Bedeutung, da sie eine Erstinformation geben, ob die von einem medizinischen Laien erhobenen Bedenken hinsichtlich der kausalen Verknüpfung eines Unfalles und geklagter Beschwerden bestätigt oder verneint werden. Diese Beurteilung kann durchaus von einem Ingenieur oder Physiker mit entsprechender medizinischer Ausbildung allein vorgenommen werden, da wesentlicher Inhalt die Grenzwertbetrachtung für DeltaV ist.

Bei Gutachten im gerichtlichen Auftrag ist die Fragestellung juristisch zu präzisieren: Im Zivilrecht gilt für die Kausalität die sogenannte Adäquanztheorie. Danach gilt als kausal, wenn ein Ereignis nach den Erfahrungen des täglichen Lebens bestimmte Folgen herbeiführt. Auf die Ausschließbarkeit oder theoretische Möglichkeit hebt die zivilrechtliche Kausalitätsbeurteilung nicht ab: Wenn zahlreiche Versuche unter definierten technischen Bedingungen vorgenommen wurden und z.B. bei 200 Experimenten zwei Kandidaten über kurzfristige Schmerzen klagten, so können bei einem Unfall mit vergleichbaren technischen Bedingungen diese Beschwerden nicht als wahrscheinlich, sondern nur als möglich bezeichnet werden. Isolierte Einzelbeobachtungen, deren physikalische Parameter unvollständig und deren medizinische Parameter überhaupt nicht bekannt sind, können nicht auf Fälle übertragen werden, deren physikalische und medizinische Parameter bekannt und anders gelagert sind.


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